Stimme der
Orthodoxie

Internetversion der Zeitschrift "Stimme der Orthodoxie" der Russischen Orthodoxen Diözese Deutschlands des Moskauer Patriarchats

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Stimme der Orthodoxie, 3/1998

Marina Bobrik-Frömke: Zum 100. Geburtstag von Vater Sergius Polozenskij.

 

Auf die Frage, wie es ihm gehe, pflegte Vater Sergius stets zu antworten: "Ich danke, blagodusestvuju" (Es geht mir wohl). Das Wort "blagoduschestvovat" gehört in der russischen Sprache zu denen, die in Vergessenheit geraten sind, und nicht jeder weiß heutzutage, was es bedeutet. Schauen wir im Wörterbuch der lebendigen großrussischen Sprache von Vladimir Dal' nach: "BLAGODUSESTVOVAT', körperliche und seelische Ausgeglichenheit genießen". Für Vater Sergius bestand diese Art Ausgeglichenheit im Wissen um zu seine Herkunft, um die Vorfahren, bestimmten geistigen Werten, Bücher und schließlich, zu den ihn umgebenden lieben und treuen Menschen. Die Gewißheit dieser echten menschlichen Beziehungen verlieh seiner Welt eine erstaunliche Beständigkeit.

Die ersten Fragen Vater Sergius' an einen Fremden, der sein Haus betrat: "Wie ist Ihr Vatersname? Woher stammt Ihre Großmutter? Ihr Großvater? Wie hießen sie?" etc. Der verblüffte Gefragte stolpert in der Regel beim Urgroßvater und der Urgroßmutter und verstummt verlegen. Vater Sergius bleibt äußerst ungehalten. Wie kann man nur so leben? Er selbst kannte seine Vorfahren genau. Sein Leben lang sammelte er alles Erreichbare an Informationen und Material über sie, rekonstruierte seinen Stammbaum. Bis in die feinsten Verzweigungen wurde er gewissenhaft erforscht und durchnumeriert, wurden die Biographien von mehr als 2000 Personen in drei dicken Ordnern gesammelt. Hierher gelangten sowohl bekannte, als auch völlig unbekannte Menschen verschiedenster Epochen und Stände, woraus sich eine russische Geschichte in Portraits ergab.

Eben darin bestand das Interesse Vater Sergius' an der Geschichte - weder das Allgemeine, das Objektive, noch ihre Prozesse beschäftigten ihn, sondern das Persönliche, Subjektive, die Ereignisse im einzelnen. Ebenso die eigene Verwurzelung in ihr.

Eindeutig und stark waren seine Sympathien und Antipathien, die er auch nicht verhehlte. Er liebte und verehrte den Metropoliten Evlogij. Leo Tolstoj dagegen mochte er nicht und bewahrte das zarte Andenken an eine Frau, mit der er nicht zusammenkommen konnte, weil er kurz zuvor zum Priester geweiht worden war.

Vieles konnte man über Vater Sergius erfahren, indem man seine literarische Vorliebe in Augenschein nahm. Ihr direktes Abbild war die Bücherlandschaft seiner Wohnung. Er hatte seine Bücher weder alphabetisch noch nach Gattung geordnet, sondern in konzentrischen Kreisen - um die Persönlichkeit des Besitzers als Mittelpunkt. Als "Schatztruhe" bezeichnete Vater Sergius einen Schrank mit Glastüren, wo er diejenigen Bücher aufbewahrte, die für ihn aus unterschiedlichen Gründen besonders wertvoll waren. Die Hälfte nahmen russische Religionsphilosophen und Theologen ein: Vladimir Solov'ev, Nikolaj Berdjaev und Vladimir Losskij, weiterhin Vater Sergius' Lehrer am Institut St.Serge in Paris : Semen Frank, Erzpriester

Georgij Florovskij und Vater Sergij Bulgakov. Hier standen die "Vechi" und die Serie der Zeitschrift "Put'". Noch weiter unten kamen Gedichte und Prosa: nebeneinander die Poesie Aleksej Chomjakovs und Don Servantes' "Don Quichote" (auf russisch und deutsch), Novellen der russischen Emigranten- Schriftstellerin Saburova und Theaterstücke Edmond Rostands - des Lieblingsschriftstellers von Vater Sergius.

Gerade Rostand - der romantische Autor des "Cyrano de Bergerac" und "L'aiglon" , das Jugendidol zu Beginn unseres Jahrhunderts - stand Vater Sergius nahe in seiner offenen und naiven Schönheitsliebe, in seinen reinen und starken Gefühlen... Diese Ideale bildeten die treibende Kraft auch für seine eigenen Gedichte, die er bis zuletzt verfaßte (das letzte schrieb ich nach seinen Worten 1990 auf). Ihr Motiv: die Begeisterung von der Schönheit der Schöpfung und vom Schöpfer selbst.

Vater Sergius' ganze Welt schien ideal, schön, geordnet zu sein. Alles war gesammelt in Ordnern - "Schnellheftern", wie er sie selbst nannte (wahrscheinlich der einzige Germanismus in seiner erstaunlich reinen russischen Sprache), in Alben, Koffern, Schränken... Es schien, als würde dies alles für die Ewigkeit gesammelt und aufbewahrt - hätte er nicht so häufig in Anlehnung an die Offenbarung des Johannes wiederholt: "Alles wird verbrennen." Sein Bewußtsein für die Endlichkeit alles Irdischen, seine weise Gelassenheit gegenüber der Ewigkeit (gern sagte er: "Was hetzt ihr euch ab, vor uns liegt die Ewigkeit"), zeigte sich am deutlichsten in seiner Freigiebigkeit. Selbst arm, verteilte er großzügig alles, was er konnte, an Bittende, Sonderlinge, Trinker, an die Verlorenen dieser Welt. Er selbst, wiederum, konnte für Hilfe dankbar sein.

Eine große Begabung Vater Sergius' war sein trefflicher Humor. Die Erinnerung an andere Menschen verband sich häufig in erster Linie mit dem Humoristischen aus ihrem Leben. Während seiner Priesterzeit an der Hl. Konstantin und Helena Kirche in Tegel stellte Vater Sergius nach den Unterlagen des Tegelers Friedhofs eine Namensliste zum Gebet für die Verstorbenen für jeden Monat eines Jahres zusammen. Diese dünnen Hefte im Din A5-Format tippte er selbst auf einer Schreibmaschine mit alter russische Orthographie (vor 1917), die er aus dem Nachlaß von Vater Ioann Sachovskoj erhalten hatte (und worauf ich die Briefe schrieb, die er mir diktierte). So wurden jeden Monat an einem Tag einige Stunden dem Vorlesen der erwähnten Verstorbenenliste gewidmet. Vater Sergius betete für die dahingeschiedenen Gläubigen, die in Tegel begraben waren. Ich verlas die Liste - Vorname, Vaters- und Famlienname, Geburts- und Sterbejahr. Fast bei jedem zweiten wurde ich unterbrochen: Vater Sergius lachte still in sich hinein, weil er sich dabei an eine komische Eigenschaft des Verstorbenen oder eine witzige Episode, die mit ihm verbunden war, erinnerte. Wie ein Kind machte er sich lustig über einen Emigranten, ein ehemaliges Mitglied der Übergangsregierung, der mit großem Ernst seinen Schnurrbart pflegte, oder über eine ältere Emigrantin, die mit einem Regenschirm schlief, da sie überzeugt war, daß die deutsche Nachbarin über ihr ein Loch in die Decke gebohrt hatte und nachts Sand auf sie schüttete.

Ich glaube, daß man sich an Vater Sergius ebenso ungezwungen erinnern sollte. Es geht ja auch nicht anders, wirft man einen Blick auf dieses Foto, von dem uns ein kluges und sehr lebendiges Gesicht vor dem Hintergrund der Tegeler Bäume anschaut. Und beim Gedenkmahl an Vater Sergius dürfte seine geliebte zuckersüße Nußtorte nicht fehlen, die immer zu seinem Geburtstag bestellt wurde. Aber kaum jemand wird den Mut aufbringen, dazu ein Glas Tee mit sechs Löffeln Zucker zu trinken, so wie er es tat.

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